Physiologische Grundlagen der Funktionalen Stimmarbeit nach Michael Heptner

Eine Lehre, eine Theorie oder eine Methode ist um verstanden zu werden darauf angewiesen zunächst mal in übersichtlichen Strukturen darstellbar zu sein. In diesem Aufsatz gibt der Begründer der Funktionalen STimmarbeit einen Einblick in Grundlagen seiner Arbeit. Anhand von vier Begriffen werden Zusammenhänge und Systeme erklärt, die es bei genauerem Hinschauen und „Hinhorchen“ ermöglichen sowohl in der Diagnose glottaler Insuffizienzen und extraglottaler Kompensationsmechanismen treffsicherer zu werden als auch in der Therapie effizienter arbeiten zu können. Diese vier Begriffe bilden zwei Paare von Antipolen, die zunächst der Definition bedürfen.

 

1.Streckschlinge

2.Beugeschlinge

3.Vordere Spannungskette

4.Hintere Spannungskette

 

Diese vier Systeme stehen in verschiedenen funktionellen Zusammenhängen, z.B.

 

Antagonistisches System:

Streckschlinge - Beugeschlinge

 

Synergistisches System mit individuell wechselnden Dominanzen

Vordere Spannungskette - Hintere Spannungskette

 

Gegenseitige Beeinflussung:

Streckschlinge - Hintere Spannungskette


Gegenseitige Beeinflussung:

Beugeschlinge - Vordere Spannungskette


Doch zunächst zu den Definitionen:


Die Beugeschlinge ist die Summe aller Muskeln und ihrer Aktivitäten, die Gelenke des Körpers beugen.

Die Streckschlinge ist die Summe aller Muskeln und ihrer Aktivitäten, die Gelenke des Körpers strecken.

 

Für das Nutzbarmachen dieser allgemein bekannten Zusammenhänge von Beuge- bzw. Streckschlingenaktivität ist es sinnvoll diese Schlingen funktionell so zu erweitern, dass zu jedem der Systeme Muskeln bzw. Muskelgruppen hinzugefügt werden, die mit der reinen Beuge- bzw. Streckschlinge intern kommunizieren. Die hinzugefügten Muskelgruppen stellen den Zusammenhang her, der z.B. zwischen Ganzkörperbewegungen und den Bewegungen des Vokaltraktes besteht.

 

Die Beugeschlinge wird erweitert durch Muskulatur, die bei dominant beugender Aktivität im Körper mit Tonuserhöhung, z.T. mit Bewegung reagiert. Die Aktivität solcher Muskulatur zeigt sich z.B. in geringer Kieferöffnung verbunden mit einer Retraktion des Unterkiefers in der Artikulation, in dem Senken der Augen, senkrechten Falten in der Stirn zwischen den Augenbrauen (zusammengezogene Augenbrauen), dem sogenannten Nadelkissen im Kinn (m.mentalis-Hyperaktivität), Zungengrunddruck, Rückverlagerung u.v.m.

 

Die Streckschlinge wird erweitert durch Muskulatur, die bei dominant streckender Aktivität im Körper mit Tonuserhöhung, z.T. mit Bewegung reagiert. Die Aktivität solcher Muskulatur zeigt sich z.B. im Heben der Augen, in waagerechten Falten in der Stirn (hochgezogene Augenbrauen); geringer Kieferöffnung verbunden mit funktioneller Progenie, Breitspannung in der äußeren Artikulation (Mundrahmen, Mundwinkel), u.v.m.

 

Diese Zusammenhänge sind leicht nachvollziehbar:

 

Stellen wir uns aufrecht in einen Raum und schauen wir zu dem Punkt an der Decke, der senkrecht über uns ist (Streckschlingenübung), so werden wir in der Abfolge der Bewegung erleben, dass nach dem Heben der Augen die Augenbrauen beginnen sich in die gleiche Richtung, nämlich nach oben zu heben. Es folgen waagerechte Falten in der Stirn, u.U. auch eine funktionelle Progenie. Danach ergibt sich eine Reihe von streckenden Muskelaktivitäten: Bewegung im Atlas um die nicht ausreichende Augenbewegung zu unterstützen, dann Streckung in der gesamten HWS, danach u.U. noch Aufrichtung in der BWS und Verstärkung des Hohlkreuzes (LWS). Für das funktionelle Verständnis: Die aus der angegebenen Übung resultierende Bewegung im Atlas und der HWS ist funktionell gesehen eine Streckung, auch wenn die natürliche Rundung, nämlich die Lordose in diesem Bewegungsablauf verstärkt wird. Sprechen wir bei der Reduktion der Lordose also bei dem „Gerade-Machen“ der HWS von Streckung so ist dieser Begriff in sofern irreführend als er die Verformung in Richtung „gerade“ aber nicht die Bewegung im funktionellen Zusammenhang beschreibt.

 

Das gleiche ist in dem antagonistischen System wahrnehmbar, wenn wir aufrecht stehend nach unten zu unseren Füßen schauen (Beugeschlingenübung). Der Aktivität der reinen Beugeschlinge gehen einige muskuläre Aktivitäten voraus, die oben beschrieben sind. Zunächst werden die Augen nach unten bewegt, dann geht es mit der Bildung senkrechter Stirnfalten weiter. Bei vielen, je nach Organisation des Atlas und der HWS gibt es dann noch eine spürbare Tonuserhöhung in dem Mundboden, im Mentalis, in der Retraktion des Unterkiefers wenn der Atlas und in Folge die HWS beginnen sich zu beugen. Auch hier ein Hinweis für das funktionelle Verständnis, diesmal zur Beugeschlingen-Übung: Die angeleitete Bewegung (schauen nach unten) des Atlas und der HWS ist im funktionellen Sinne eine Beugung. Nur von der äußerlich sichtbaren Verformung erinnert sie im ersten Teil der Bewegung optisch an eine Streckung. Auch in der kinästhetischen Wahrnehmung kann durchaus der Eindruck einer Streckung vorherrschen, dann nämlich, wenn die Haupt-Aufmerksamkeit dorsal, in diesem Fall im Nacken konzentriert ist. Wir erleben eine Dehnung der Nackenmuskulatur. Das führt viele von uns zunächst mal auf die falsche Fährte. Anders formuliert: Sprechen wir bei der Reduktion der Lordose also bei dem „Gerade-Machen“ der HWS von Streckung so ist dieser Begriff in sofern irreführend als er die Verformung in Richtung „gerade“ aber nicht die Bewegung „Beugung“ im funktionellen Zusammenhang beschreibt.

Das zweite Begriffspaar beschreibt Dominanzen von Aktivitäten, die den Vokaltrakt von vorne (ventral) oder von hinten (dorsal) in seiner Form verengen können:

 

Die vordere Spannungskette – und - Die hintere Spannungskette

Zunächst auch hier wieder zur Eindeutigkeit der Begrifflichkeiten und deren Verständnis die notwendigen Definitionen:

 

Die vordere Spannungskette ist die Summe der Muskeln, die den Vokaltrakt von vorne verengen oder sogar schließen können. Dazu gehören die Kiefer- und Lippenschließmuskeln, die Zunge, der Mundboden und auch die schließende Muskulatur der Aryepiglottischen Falte. All diese Muskeln und Muskelsysteme sind fähig den Vokaltrakt von vorne zu verschließen oder ggf. kompensatorisch zu verengen.

 

Die hintere Spannungskette ist die Summe der Muskeln, die den Vokaltrakt von hinten verengen kann. Dazu gehören die Muskeln der Rachenrückwand, die drei pharyngealen Konstriktoren. Sie bilden die hintere Spannungskette.

 

Das Velum, also das Gaumensegel nimmt je nach Dominanz in der Organisation der Artikulation oder einer Kompensation glottaler Insuffizienz entweder eine Zwitterstellung ein oder es schlägt sich funktionell gesehen auf die eine oder die andere Seite der jeweiligen Spannungskette. Der Rahmen eines einführenden Aufsatzes wäre gesprengt würde auf die Differenzierung des Gaumensegels in seinen vielfachen Identifikationsmöglichkeiten eingegangen.

 

Die vordere Spannungskette ist erlebbar, wollen wir bewusst besonders tief und mit dunklem Stimmklang sprechen. Wir erleben eine Tonuserhöhung im Mundboden, einen heruntergedrückten oder herabgezogenen Kehlkopf und in Verbindung damit einen abgedunkelten Stimmklang verbunden mit abgesenkter Sprechstimmlage. Darüber hinaus ist aber auch noch eine Beugung im Atlas und der HWS (siehe oben unter „Beugeschlingenübung“) und das Zusammenziehen der Augenbrauen zu beobachten. Wir erleben in diesem Zusammenhang eine abgedunkelte eher dumpfe, tiefe Stimme. Eine der ab und zu vorkommenden Spätfolgen sind bei derartiger Überlastung des m.vocalis und Ausschaltung seines Antagonisten c.t. der ovaläre Spalt.

 

Die hintere Spannungskette ist erlebbar, versuchen wir besonders hell und hoch zu sprechen. Wir erleben eine Bewegung im hohen Nacken, der Atlas und /oder die gesamte HWS werden gestreckt (siehe unter Streckschlingenübung), der Unterkiefer ist tendenziell eher nach vorne geschoben (funktionelle Progenie), die Halsmuskulatur und damit auch die Kehlkopfaufhängemuskulatur ist gespannt / gezerrt, die Augenbrauen werden nach oben gezogen, es entstehen waagerechte Falten an der Stirn, die Stimme wird höher, flacher heller mit der Tendenz zum Hauch (im Extremfall: dorsalen Spalt).Und damit sind wir bei der Beschreibung der funktionellen Zusammenhänge der vier jeweils zweipaarigen Begriffe: Beugeschlinge, Streckschlinge, vordere Spannungskette, hintere Spannungskette.

 

Die Beugeschlinge beeinflusst die vordere Spannungskette

und umgekehrt

Die Streckschlinge beeinflusst die hintere Spannungskette

und umgekehrt

 

Wie in dem Absatz oben schon angedeutet haben die Beugeschlinge, Streckschlinge, vordere und hintere Spannungskette auch einen recht eindeutigen Einfluss auf stimmliche Parameter wie Höhe, Stimmklang, also das Frequenzspektrum und eventuelle Geräuschanteile.

 

Die Beugeschlinge in Zusammenarbeit mit der vorderen Spannungskette bringt auf glottaler Ebene eine eindeutige Ausrichtung von phonatorischen Dominanzen. Wir können den Zusammenhang zur tieferen dunkleren Stimme erleben. Das Tieferwerden der Stimme deutet auf glottaler Ebene auf eine Verschiebung der Dominanz im Antagonismus c.t. – vocalis zu Gunsten des letzteren hin. Das heißt, dass die Phonation sich dominant ausrichtet nach der Funktionsweise und den Reaktionsmöglichkeiten des kraftvollen Einsatzes unseres internen Stimmlippenmuskels, des m.vocalis. Dieser reagiert am stärksten und kräftigsten zunächst mal auf die Erhöhung des subglottischen Luftdrucks. Damit erleben wir bei der oben angesprochenen Kompensation (besonders tief und dunkel zu sprechen) um die für den m.vocalis typische Druckdominanz. Die Rückverlagerung, der Zungengrunddruck, die Elemente der vorderen Spannungskette und eine Dominanz der Beugeschlinge sind die häufigsten Begleiter dieser Art von Kompensation. Wir sprechen von einer vocalis-Druckdominanz oder von einem über das Überdruckventilsystem erzwungenen kompensatorischen Massenregister. Es bezeichnet die glottale Schwingungsorganisation durch die Dominanz des m.vocalis und dessen unsensibel zur Schwingung gebrachten Masse. Dadurch ist sowohl die Sensibilität des m.vocalis als auch die Feinregulation des Antagonismus c.t.-vocalis entscheidend beeinträchtigt.

 

Die Streckschlinge in Zusammenarbeit mit der hinteren Spannungskette bringt ebenso auf glottaler Ebene eine eindeutige Gewichtung phonatorischer Dominanzen. Wir können den Zusammenhang zur aufgehellteren höheren Stimme erleben. Das Höherwerden der Stimme deutet auf glottaler Ebene auf eine Verschiebung der Dominanz im Antagonismus c.t.-vocalis zu Gunsten des c.t. hin. Das bedeutet, dass sich die Phonation dominant ausrichtet nach den ganzkörperlichen Unterstützungs- bzw. Kompensationsmöglichkeiten des c.t. und das ist vor allen Dingen die Streckschlingendominanz unter Zuhilfenahme der hinteren Spannungskette. Wir erleben die ganzkörperliche Unterstützung der c.t.-Dominanz z.B. in hochgezogenen Augenbrauen, hochgezogenem Kehlkopf, in einer funktionellen Progenie, in einer gestreckten HWS (siehe Streckschlingenübung), einer artikulatorischen Breitspannung und einer Verspannung der Rachenrückwand. Diese Art von c.t.-Dominanz kann man auch als ein unflexibles Spannungsregister im Sinne der glottalen Schwingungsorganisation bezeichnen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Dominanz der ganzkörperlich unterstützenden Maßnahmen für den c.t. der Fähigkeit zur sensiblen Spannungsdifferenzierung im m.vocalis massivst entgegenarbeiten und damit durch die Einseitigkeit der c.t.-Dominanz der Antagonismus zwischen vocalis und c.t. wenn nicht ausgeschaltet so in jedem Fall in seiner Feinregulation empfindlich gestört ist.


Die Theorie dieser zwei paarigen Antipole auf dem Prüfstand der Praxis

 

Diese vier Erscheinungsformen menschlicher Bewegungsorganisationen kommen aus der Beobachtung verschiedenster Bewegungs- und Haltungsmuster. In einer relativen Reinform gibt es z.B. die Beugeschlinge nur im pathologischen Bereich von extremen globalen Spastiken. Jede Form einer Bewegungsorganisation, einer Kompensation ob primär oder sekundär, die für die Diagnose und die Wahl geeigneter Übungen in der Stimmtherapie interessant ist, besteht also aus einer Mischform. Um diese zunächst mal als uneindeutig anmutende beobachtbare Bewegungsorganisation entsprechend deuten zu können ist es hilfreich sich bestimmte Körperbereiche speziell anzuschauen. Sammeln wir Eindrücke von den verschiedensten Körperregionen so kann es z.B. sei, dass wir bei besonders angestrengter Stimme ganz viele Elemente der Streckschlinge sehen, wie z.B. ein abgestreckter Daumen, ein abgestreckter kleiner Finger, Gewichtvorverlagerung bis zum Abheben der Fersen im Stand, hochgezogenen Augenbrauen, Breitspannung im Lippenring, gestreckte HWS, vorgeschobener Unterkiefer... Alles das führt uns zu der Vermutung, dass wahrscheinlich auch die Rachenrückwand für eine Vokaltraktverengung dominant aktiv ist, dass die Sprechstimmlage wahrscheinlich zu hoch ist, dass die Stimme einseitig zu hell ausgeprägt ist. All das können wir auch hören und vermuten. Was aber, wenn verschiedene Bereich im Körper von der Streckschlingenaktivität und andere wiederum von der Beugeschlingenaktivität dominiert werden? Guter Rat muss nicht teuer sein. Beobachten wir zum Zeitpunkt der Leistungssteigerung in der Phonation ausgesuchte Bereiche des Körpers so können

 

wir sehen was wir hören

und

wir hören was wir sehen

 

Das bedeutet, dass synchron zum Lauter- oder zum Höherwerden der Stimme, zum Ausdruckvoller- oder Mächtigerwerden der Stimme es in speziellen Bereichen des Körpers fast untrügliche Anzeichen dafür gibt welches kompensierende System oder sogar welcher Muskel auf glottaler Ebene wann in welche Dominanz geht. Solche leicht zu beobachtenden Bereiche sind vor allen Dingen:

 

Atlas - Beugen, Strecken

Lippenring - mentalis-Hyperaktivität, Breitspannung des Lippenrings über den m.buccinator, m.risorius

Stirn - senkrechte Falten, waagerechte Falten

Daumen - Abduktion oder Adduktion im Daumensattelgelenk

Sprunggelenke - Gewichtsvor- oder Rückverlagerung

Unterkiefer - Öffnungswinkel, funktionelle Progenie, Retraktion

Augen - Blickrichtungsveränderung nach oben oder unten

HWS - beugende- oder streckende-, Kopf zurückziehende oder vorschiebende Bewegung

 

Die aufgeführten Bereiche sind nicht nach dem Gewicht ihrer Aussagekraft über die Dominanz der Kompensationen glottaler Disorganisationen geordnet. Eine solche Ordnung wäre wegen der Individualität der verschiedensten menschlichen Bewegungs- und Haltungsorganisationen auch gar nicht allgemein gültig. Doch über die Jahre der Praxis funktionaler Stimmarbeit hinweg haben sich diese Körperbereiche für die Diagnostik und Therapie als besonders beachtenswert herausgestellt.


Die Diagnostik

 

glottaler Einseitigkeiten in der Schwingungsorganisation wie oben schon beschrieben ist besonders dann für den Einstieg in die Therapie und die Auswahl effizienter Übungen erforderlich, wenn wir eine für die Therapie unzureichende Diagnose wie „hypofunktionelle Dysphonie“ oder „hyperfunktionelle Dysphonie“ oder „unvollständiger Stimmbandschluss“ o.ä. auf dem Überweisungsschein stehen haben. Mit Hilfe der oben angeführten Bewegungs- und Haltungsmerkmalen können wir in der Stimmtherapie die Diagnose präzisieren und sogar Aussagen über das interne Kommunikationsverhalten der sonst so wenig bewussten glottalen Muskulatur machen.


Die Therapie

 

richtet sich wie in der Diagnostik nach der Flexibilisierung bzw. Stabilisierung jener auffälligen Körperbereiche, die rein funktionell der Stimme sehr nahe stehen. (siehe Liste: Atlas bis HWS). Der Grund für die häufige Übereinstimmung der für die Diagnostik zu beobachtenden Körperbereiche und die in der Therapie zu behandelnden Bereiche besteht einfach darin, dass eine ganz- oder teilkörperliche Kompensation einer glottalen Insuffizienz oder Fehlorganisation in der Regel gleichzeitig eine Gesundung der Stimmfunktion verhindert. Das bedeutet häufig, dass ein Schritt - wenn auch nicht immer der erste - der Weg der funktionelle Dekompensation ist. Dekompensation bedeutet in diesem Zusammenhang die Irritation bzw. die Aufhebung einer Kompensation.


Aber Vorsicht!!!

 

Nicht immer ist der Wunsch einer funktionellen Dekompensation auch sofort ohne Hindernisse in die Tat umsetzbar. Selbst wenn ich sehe: Es ist der Atlas, der ganz eindeutig „klemmt“, der einen Großteil des Stimmproblems (u.U. sogar ursächlich) ausmacht bzw. dessen „Linderung“ verhindert ... - Wenn die Kompensation gebraucht wird, d.h. eine Haltung zur Sicherheit oder zur Stabilität dringend erforderlich ist, dann wäre es ein unverantwortlicher Eingriff in ein notwendiges Sicherheitssystem dem Klienten seine die Stimmstörung unterstützende Fehlhaltung, Verspannung wegzunehmen selbst wenn sie auf den ersten Blick der Effizienzregelung der Stimmfunktion massiv im Weg steht. Solche notwendigen Kompromisse, die wir in der Stimmtherapie oft eingehen müssen sind bei aufmerksamer Beobachtung aber relativ schnell auszumachen (siehe unter „Atlas“).

Der Atlas


Eines der sensibelsten Bewegungsorgane, die mit der Stimme im engen Zusammenhang stehen, ist sicher der Atlas. So zentrale Bedeutung er für die Stimme hat, so deutlich die Arbeit an seiner Flexibilisierung auch Auswirkung auf die Stimme hat, so groß ist die Gefahr der u.U. auch unerwünschten Nebenwirkungen. Hier gilt leider ab und zu, dass die effizientesten Übungen, die genialsten Therapiekonzepte oft diejenigen sind, die nicht nur die größten Nebenwirkungen sondern auch mit den größten Hemmschwellen zu tun haben. Die den Atlas bewegende Muskulatur bekommt ihre Hauptinformation über das Zusammenwirken von Augen, Ohren und dem Gleichgewichtsorgan, also von und für die Organisation von Gleichgewicht und akustischer und optischer Orientierung im Raum. Wird der Atlas mehr als verantwortbar flexibilisiert, wird er für seine gedachten Funktionen destabilisiert, so kann Schwindel, Absacken des Blutdrucks, Übelkeit bis hin zum Erbrechen oder Ohnmacht die Folge sein. Als Therapeut ist es sinnvoll sogenannte Frühwarnsysteme zu kennen und zu erkennen. Solche sind Schwanken, Destabilisierung in der Augenblickrichtung, bei Phonation in der Singstimme ungewohnte Unregelmäßigkeiten in der Tonhöhenorganisation und Nachlassen der medialen Kompression bis hin zum Verhauchen der Stimme über das gewohnte Maß hinaus, Absinken der Frequenz von bis dahin rhythmischen Bewegungen. Dies sind externe Frühwarnsysteme. Die internen Frühwarnsysteme sind in der Regel viel häufiger und viel effizienter im Einsatz. Der Klient selbst sagt: „Nein auf den Sitzball möchte ich nicht.“ oder „Nein, an den Nacken da darf niemand ran, das macht mir Angst.“ Manchmal kommt es bei den ersten Versuchen den Atlas zu flexibilisieren auch zu der paradoxen Reaktion einer Verhärtung, einer Gegenstabilisierung. Auch das ist ein Signal, was nicht übersehen werden darf.


Die Sprunggelenke

 

Geht es bei der Atlasflexibilisierung unter anderem um die Lockerung der Kehlkopfaufhängemuskulatur, so gibt es auch noch andere Wege um den Atlas zu weicheren Bewegungen zu überreden ohne ihn direkt anzusprechen. Die Sprunggelenke stehen funktionell in engem Zusammenhang zu ihm. Auch sie sind an der Organisation des Gleichgewichtes vor allem im Stehen beteiligt. Je nachdem ob man nun im Sitzen oder im Stehen arbeitet wird man einmal direkter oder einmal indirekter also auch mit mehr oder weniger Nebenwirkungen den Atlas in der Qualität seiner Bewegungsorganisation erreichen.


Die Daumen

 

Der Daumen ist in seiner Funktion als ein zu den anderen Fingern der Hand in Opposition stehender „Greiffinger“ für die Arbeit an der Stimmfunktion von unschätzbarem Wert. Insbesondere das Daumensattelgelenk ist in seiner Flexibilisierung für die Flexibilisierung der Stellknorpelbeweglichkeit auf dem Ringknorpel von entscheidender Bedeutung. In der Diagnostik beobachten wir synchrone Bewegungen von Stimmeinsatz und Stimmabsatz mit Ab- oder Adduktionsbewegungen des Daumens in seinem Sattelgelenk. In der Flexibilisierung des Daumensattelgelenkes steht uns in der Therapie ein probates Mittel zur Verfügung die Arybeweglichkeit in der Adduktion und der Abduktion zu flexibilisieren, zu vergrößern und zu sensibilisieren. Dadurch erreichen wir einerseits einen sensibleren, saubereren Schluss an den processus vocales andererseits auch die Reduktion des inspiratorischen Stridors. Besonders interessant sind rhythmische Greifübungen von Daumen und kleinem Finger synchronisiert mit Stimmeinsatz und Stimmabsatz für den dorsalen Spalt, für den inspiratorischen Stridor, die Recurrensparese. Für all diese Patienten sind in der Regel solche Übungen eher schwer auszuführen. Massage der beugenden Daumensattelgelenksmuskulatur kann den Weg zu solchen Übungen vorbereiten. Auch hier ist wie so häufig das Maß der Schwierigkeit einer Übung gleichzeitig das Maß seiner Effizienz. In der Funktionalen Stimmarbeit reduziert sich dadurch die Anzahl der Übungen zugunsten der Qualität in der Ausführung und ihrer Effizienz.


Der Lippenring

 

Wie schon oben beschrieben finden wir im Lippenring bzw. im gesamten Mundrahmen die Kompensationsmechanismen der Streck- und der Beugeschlinge wieder. So sind gegen die Breitspannung als Element der Streckschlinge und die Spannung der Rachenrückwand fördernde Aktivität Übungen zur Aktivierung des m.orbicularis oris also rundende Bewegungen sinnvoll. „u“ und „o“ schon in der Einatmung sind für die meisten „Breitspanner“ eine sehr schwere Übung. Es widerspricht ihrem Konzept. Wie so häufig ist hier das Schwere und Ungewohnte der Übung ein Maßstab für ihre Effizienz. Im Extremfall kann es sogar sinnvoll sein ein Krafttraining für den m.orbicularis oris anzuleiten: Gegen die eigenen zwei kleinen Finger den Lippenring runden. Die kleinen Finger liegen dabei in den Mundwinkeln und ziehen leicht/zart nach lateral. Gegen das antagonistische Prinzip der Kompensation in der Beugeschlinge, hier als Hyperfunktion im m.mentalis, der die vordere Spannungskette aktiviert, sind Übungen wie Massage des m.mentalis, Artikulationsbewegungen der Zunge von hinten-unten nach vorne-oben oder einfach nur von hinten nach vorne (a-ä-e-i-j oder u-ü-i-j) angebracht. Wichtig dabei ist die Wahrnehmung der Zungenbewegung im Zungenrücken, der sich mit so wenig Kraftanstrengung wie möglich bewegen sollte. Denn nur so ist eine Verwandlung des Konzeptes von unökonomischem Kraftaufwand hin zu einem effizienterem Bewegungsmuster möglich.


Abschließende Betrachtungen

 

In der Kürze eines Aufsatzes kann ein solch interessantes und umfangreiches Thema wie das einer differenzierten Diagnostik und Therapie der gestörten Stimme nur angerissen werden. Sollte das ein oder andere Mosaiksteinchen im weiten Feld der Stimmtherapie sich geordnet haben, das Gesamtbild von der Stimme und ihren rein bewegungsphysiologischen Zusammenhängen etwas komplettiert haben, so habe ich mein Ziel mit diesen Zeilen erreicht.

 

Zentrale Begriffe: Beuge- und Streckschlinge, vordere und hintere Spannungskette, Effizienz der Bewegungsorgansiation