Wie entsteht ein gesungener Ton?

 

Wenn wir uns die Frage "Wie entsteht ein gesungener Ton?" stellen, müssen wir uns zunächst darüber im Klaren sein, was der Begriff "Ton" überhaupt bedeutet. In der Physik ist er ein Schallereignis mit einer definierten Frequenz ohne Obertonspektrum, ein Sinuston. Der gesungene Ton hingegen, der hier gemeint ist, ist im physikalischen Sinne ein Klang, da er aus einem Grundton und einem sich darauf aufbauenden Obertonspektrum besteht.
Er entsteht durch ein Zusammenspiel von drei funktionellen Subsystemen unseres Körpers: Atmung - Phonation - Artikulation. Die Atmung stellt den notwendigen Luftdruck und Luftfluss zur Verfügung. Die Phonation sorgt durch eine hochdifferenzierte Ventilfunktion für die Produktion des ungefilterten Primärklanges, und die Artikulation bietet Filterung Verstärkung, Modulation und Resonanz des auf glottaler Ebene produzierten Primärklanges.

Wie geht nun die Tonproduktion vor sich?

Atmung

Da der gesungene Ton strömende Luft braucht, die den Körper in Form von Ausatmung verlässt, ist die erste Voraussetzung und auch die erste muskuläre Aktivität, die in diesem Zusammenhang zu beschreiben wäre, die Einatmung. Unser stärkster und größter Einatmungsmuskel ist unser Zwerchfell. Je nach Tonhöhe, Lautstärke und intendierter Stimmklangfarbe kommen in der Einatmung verschiedene Segmente des Zwerchfells mit verschiedener Gewichtung zum Tragen. Da ein gesungener Ton in der Regel einen deutlich höheren Energiebedarf hat als ein gesprochener Vokal, reicht die reine Abdominalatmung nicht immer aus. Das Zwerchfell hat über die Mithilfe des Bauches - er spannt im weiteren Verlauf der Einatmung immer mehr gegen seine durch das Zwerchfell produzierte Dehnung - die Kraft, den Brustkorb von der 12. Rippe bis maximal zur 8. Rippe nach lateral aufzudehnen. Dadurch werden die äußeren Zwischenrippenmuskeln (intercostales externi) zur Kontraktion und die inneren Zwischenrippenmuskeln (intercostales intimi und interni) zur Entspannung angeregt. Je nach phonatorischem Energiebedarf geht die Atmung dann weiter über die lateralen Bereiche des Brustkorbes bis hin zur 3. Rippe. Während die Rückenstrecker in ihrer Kontraktion leicht nachgeben ohne dass eine Haltungsänderung sichtbar werden muss, können die dorsalen Rippenheber (levatores costarum breves et longi) den Brustkorb vom Rücken aus erweitern. Die letzte Volumenerweiterung, die für das Hochleistungssingen häufig notwendig wird, ist die Weitung der sogenannten Brustkuppel, die Hebung der obersten beiden Rippen durch die lateralen und ventralen Rippenheber (scaleni med., ant., post.).

Artikulation

Gleichzeitig mit der Erweiterung des Bauch- und Brustraumes über sämtliche Einatmungsmuskulatur wird nun der Kehlkopf mit Hilfe der drei Kehlsenkerpaare aufgrund der erhöhten Einatmungsaktivität reflektorisch abgesenkt. Dadurch entspannen sich sämtliche Kehlhebermuskeln. Durch deren Entspannung verlängert und erweitert sich der gesamte Vokaltrakt.
Die Aktivität auf artikulatorischer Ebene ist die Öffnung des Mundraumes in die verschiedenen Richtungen. Der Unterkiefer öffnet sich, die Lippen lösen sich voneinander, im Atlasgelenk gibt es eine leichte Kippbewegung, die Nasenflügel bekommen eine leichten Impuls sich zu "blähen", der Lippenringmuskel erhält einen kleinen Impuls zur Kontraktion, dadurch erweitert sich der Rachenraum nach dorsal. Die Zunge gibt nach vorne unten nach und weitet somit den Vokaltrakt nach ventral-kaudal.

Glottisebene

Während der Einatmung passiert folgendes auf glottaler Ebene, der Ebene der Primärklangproduktion: Die Aktivierung der Einatmungsmuskulatur über das normale Maß der Ruheatmung hinaus gibt einen zusätzlichen neurologisch - reflektorischen Impuls in die die Glottis öffnende Muskulatur (cricoarytenoideus posterior, kurz: posticus) und den inneren Stimmlippenmuskel (m.thyroarytenoideus internus, kurz vocalis). Die Stimmlippen werden noch weiter als in der Ruheeinatmung voneinander abduziert. Da es bei einem gesungenen Ton zusätzlich zu einem gesprochenen Vokal noch die Notwendigkeit einer exakten Tonhöhenvorbereitung gibt, werden in der Einatmung schon verschiedene Antagonismen und Synergismen aktiv, die später in der Phonation die Grundfrequenz des gesungenen Tones organisieren. Zu diesen Mechanismen gehören der Antagonismus (oder auch im Idealfall Synergismus?) zwischen Vocalis und c.t. (cricothyroideus = äußerer Stimmbandspanner). Der c.t. bereitet sich auf die grobe Tonhöhenspannung vor, der vocalis reagiert durch eine in der Einatmung noch undifferenzierte Gegenspannung. Ein weiterer Funktionszusammenhang, der in der Einatmung schon die Adduktion der Stimmlippen und die Differenzierung der Schließfunktion vorbereitet, ist das Zusammenspiel zwischen LTA (thyroarytenoideus lateralis = dorsal-lateraler Kehlkopfspanner), LCA (cricoarytenoideus lateralis = Stimmlippenadduktor) und dem c.t. (äußerer Stimmbandspanner) sowie einem differenzierten Antagonismus von vocalis, LTA und LCA. Alle die aufgeführten Muskeln bzw. Muskelsysteme bereiten in der Einatmung durch leichte Spannungserhöhung die genaue Spannungsdifferenzierung für den Einsatz und die Phonation vor.

Stimmeinsatz

Für den Stimmeinsatz ist es nun notwendig, dass der Luftstrom der Einatmung seine Richtung ändert. Das passiert dadurch, dass die Einatmungsmuskeln langsam beginnen nachzulassen. Sie dosieren damit das Ausströmen der Luft gegen die elastischen Rückstellkräfte von Bauch, Brustkorb, Lunge und gegen die Schwerkraft, die vor allem auf den Brustkorb wirkt. Diesen Vorgang der Balance zwischen den beschriebenen Kräften könnte man als physiologische Stütze bezeichnen.
Im Stimmeinsatz folgt die Adduktion und die nach dorsal gerichtete Spannung der Stimmbänder und damit der Stimmlippen durch ein Zusammenspiel von LTA und LCA, die nun den posticus entspannen. Diese beiden Muskeln drehen die beiden Stellknorpel im ventralen Bereich (processus vocales), also dort, wo die Stimmbänder und der vocalis ansetzen, zueinander hin. Dadurch schließt sich der ligamentöse Anteil der Stimmritze. Das Stimmband inklusive des vocalis wird von dorsal gegen die Aktivität des äußeren Stimmbandspanners (c.t.) gelängt. In einer unmittelbar auf diese Bewegung folgenden Aktion schließen die Muskeln, die die beiden Aryknorpel im dorsalen Bereich miteinander verbinden (mm. interarytaenoidei obliqui ed transversus), den knorpeligen Anteil der Stimmritze durch eine nach medial geführte Gleitbewegung der Aryknorpel auf der dorsal sich befindenden Siegelplatte des Ringknorpels. Die Qualität der Adduktionsbewegung im Bereich der processus vocales, also im ventralsten Anteil der Aryknorpel, (dorsalster Anteil des ligamentösen Teils der Stimmritze), die durch LTA und LCA ausgeführt wird, ist nach neuesten Forschungen aus Boston und San Francisco (Vorträge Stimmsymposium Salzburg 1996: Kathrin Verdolini Boston, Kristof Idzebsky San Francisco; nicht veröffentlicht) von der Form des Vokaltraktes abhängig. So gibt es im Phonationseinsatz je nach Form des Vokalraumes, durch den die Sängerin / der Sänger einatmet, verschiedene Restweiten. Diese Restweiten, gemessen an den processus vocales, sind nun mitentscheidend für die Stimmfarbe, den Stimmklang, also auch für die musikalische und emotionale Aussage eines gesungenen Tones. Sie ist u.a. entscheidend für die Art der Schwingung, ihre Amplitude, die schwingende Masse, die Differenzierung der Spannung gerade in der Höhe, den subglottischen Anblasdruck, die Länge der öffnungs- und damit auch der Schließungsphasen, die Aufprallgeschwindigkeit und damit auch die Qualität der Schleimhautschwingung.

Phonation

In der Phonation strömt Luft durch den Kehlkopf hindurch. Die Glottis hat sich im Einsatz bis auf eine nur in Hochgeschwindigkeitsaufnahmen und in der Glottokymographie messbare Restweite geschlossen. Anders als in der Sprechstimme sorgt nun ein mehr oder weniger bewusster Gedanke für die genaue Tonhöhenspannung. Die grobe Tonhöhenvorspannung wird durch den c.t. organisiert. Darauf reagiert der vocalis als Feineinsteller der Tonhöhenspannung. Damit ist der ligamentöse Teil der Glottis mit der notwendigen Tonhöhenspannung von ventral versorgt. Für die Spannung gegen c.t. und vocalis und gleichzeitig für die dorsale Schließkraft sorgen nun LTA und LCA. Sie halten die Adduktionsspannung nach medial und die Longitudinalspannung nach dorsal.
Für die Schwingung sorgt nun der Luftfluss. In der Hochgeschwindigkeitsaufnahme ist (anders als in der Stroboskopie) der genaue Ablauf der ersten Schwingungen im Einsatz und danach zu sehen. Anders als in der weniger vitalen Sprechstimme des Alltagssprechens schließt die Glottis im Einsatz nicht komplett. Dadurch ergibt sich für den Sänger / die Sängerin über die Differenzierung des Luftflusses die Möglichkeit den Stimmklang, die Tonhöhe und die Lautstärke sehr gezielt zu differenzieren. Der komplette, sehr sensible und dadurch effiziente Stimmschluss, den vor allem die Hochleistungssingstimme braucht, ergibt sich nun aus der Wirksamkeit des Bernoulli Effektes (Ansaugeffekt durch strömende Luft). Nicht allein über Adduktion und mediale Kompression, sondern auch durch den Bernoulli - Effekt kommt die Differenzierung der Stimmschlusskraft und die Form der Schwingung zustande.

Für die Schönheit des gesungenen Tones ist das Zusammenspiel von so vielen verschiedenen Mechanismen inklusive der ganzkörperlichen und psychogenen Komponenten mitverantwortlich, dass eine weitere Beschreibung dieser komplexen Zusammenhänge ein ganzes Buch füllen und damit diesen Rahmen sprengen würde.